Tina Turner ist nicht einfach ein Teil der Geschichte des Rock’n’roll.
Sie ist Rock’n’roll-Geschichte. Aber nach einer Autobiografie, einer Verfilmung der Autobiografie und Dutzenden von Dokus während der letzten Jahrzehnte muss man fragen: Was hat die neue Dokumentation Neues zu bieten?
You’re simply the best
„Tina! Tina! Tina!” skandiert die Menge immer wieder. So beginnt der neue Dokumentarfilm von Daniel Lindsay und T. J. Martin, deren Film „Undefeated“ 2012 mit dem Oscar für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde. „Undefeated“ war eine Heldengeschichte über drei schwarze Jugendliche aus einem der weniger schönen Viertel vom Memphis, die für ihre High School Football spielen um eine bessere Zukunft zu erlangen. Und eine Heldengeschichte ist auch Lindsays und Martins neuer Film über eine der erfolgreichsten Sängerinnen aller Zeiten.
„Tina! Tina! Tina!” brüllt das Publikum in der ersten Szene des Films. Und wie das Publikum bei jedem der Hunderten von Konzerten, die Tina Turner in ihrem Leben gegeben hat, müssen auch wir nicht lange warten bis wir bekommen, wofür wir gekommen sind. Wir bekommen Tina. Wir bekommen Tina als junges Mädchen. Wir bekommen Tina als junge, noch unerfahrene Sängerin. Wir bekommen Tina als Star an der Seite des Mannes, der ihre erste Inkarnation erschaffen hat, Ike Turner. Wir bekommen Tina als Opfer dieses brutalen, selbst zutiefst unsicheren Mannes. Wir bekommen Tina als Kämpferin, die sich und ihre Familie ernähren muss. Wir bekommen Tina als einen der größten Stars der 80er Jahre. Wir bekommen Tina als Grand Dame des Rock’n’roll.
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Zunächst breiten Lindsay und Martin die ersten Fünfzig Jahre von Tina Turners Leben vor uns aus. Und das machen sie großartig. Die ersten zwei Drittel des Films gehören zum Besten was man in dieser Art des Dokumentarfilms je gesehen hat. Unmengen an Archivmaterial, sowohl Filmclips, Standbilder als auch Tonaufzeichnungen, wurden meisterhaft mit neuem Material montiert. Neue und alte Aussagen von Interviewpartnern, von denen viele bereits verstorben sind, gehen homogen ineinander über, sodass man manchmal meint, echte Dialoge hören. Zusammen mit dem dynamisch geschnittenen neuen und alten Bildmaterial, vermittelt der Film Dynamik und Lebendigkeit, die man von Dokumentationen so nicht gewohnt ist. Teilweise meint man, einen unglaublich gut erzählten Spielfilm zu sehen.
Und was für eine Geschichte dieser Spielfilm zu erzählen hat. Eine schreckliche, traumatische Kindheit führt in eine frühe Ehe voll Misshandlung und Missbrauch. Aber durch die Beziehung zu Ike Turner wird die unscheinbare Anna Mae Bullock aus Nutbush, Tennessee erst zu Tina Turner. Wir bekommen ihre enorme Bühnenpräsenz vermittelt, mit der sie ihrer Zeit weit voraus war. Aber wir lernen auch, welchen Preis die junge Tina für diese Verwandlung zu bezahlen hatte. Sechzehn lange, furchtbare Jahre sollte es dauern, bis sie endlich frei sein konnte. Und weitere Acht Jahre sollte es bis zu ihrem Comeback mit „Private Dancer“ (immer noch unter den 100 bestverkauften Alben aller Zeiten) dauern, das Tina nicht als „Comeback“ sondern als „Debut“ bezeichnet.
Better than all the rest
Aber was war danach? Nach einem der größten Erfolge der Musikgeschichte? Nachdem die ersten zwei Drittel des Films die Grenzen zwischen Dokumentation und Spielfilm aufgehoben haben, ist es fast traurig anzusehen, wie das letzte Drittel des Films zu einer recht beliebigen 0815-Doku über das Leben eines Stars verkommt. Tinas enormes Tournee-Pensum von mehr als Zweihundert Konzerten in anderthalb Jahren wird erwähnt. Aber wir erfahren nicht, was sie dazu getrieben hat, als einer der größten Stars ihrer Zeit, immer noch jeden zweiten Tag ein Stadion voller Fans zum Toben zu bringen. Tina erzählt, wie sie ihren zweiten Ehemann Erwin Bach kennengelernt hat. Aber wir erfahren nicht wirklich, was diese Liebe so spät in ihrem Leben für sie bedeutet hat.
Und was Erwin Bach für seine Frau getan hat. Natürlich muss man nicht erwähnen, dass Bach, der zu diesem Zeitpunkt selbst bereits über sechzig war, seiner Frau vor einigen Jahren eine Niere gespendet hat. Ob das im Film vorkommt oder nicht, bleibt den Filmemachern überlassen. Man muss auch nicht erwähnen, dass diese Nierenspende lebensnotwendig war, nachdem Turner sich entschieden hatte, eine Krebserkrankung homöopathisch behandeln zu lassen, was zu einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes geführt hat. Auch diese Entscheidung bleibt natürlich den Filmemachern überlassen.
Aber dann fällt auf, dass Tinas Krebserkrankung im Film gar nicht richtig thematisiert wird. Auch über ihren Schlaganfall hören wir kein Wort. Andere Themen fallen ebenfalls unter den Tisch. Nachdem Tinas frühe Jahre teilweise akribisch beleuchtet wurden, erfahren wir nie wie Tina als ältere Dame lebt. Kein Word über ihren Rückzug von der Bühne, die jahrzehntelang ihr einziges Zuhause war. Wir sehen Tina zur Galapremiere des Musicals über ihr Leben nach New York reisen. Aber wir sehen nie wirklich, wie sie ohne großen Pomp am Zürichsee lebt. Wir sehen die späte Hochzeit mit vielen prominenten Gästen. Aber wir sehen nicht, wie dieses Paar nach Dreißig gemeinsamen Jahren miteinander lebt.
Nachdem die ersten Fünfzig Jahre detailliert ausgebreitet wurden, erfahren wir praktisch nichts über Tinas Alltag in den letzten Jahren. Dabei wäre das doch genau der Teil, der noch nicht bereits Dutzende Male beschrieben wurde. Wie lebt ein Star nach dem Rückzug von der Bühne? Tina Turner war jahrzehntelang der Inbegriff der Powerfrau, voll unbändiger Energie und Kraft. Wie lebt sie jetzt, da sie – mit Verlaub – alt und krank ist? Tina spricht in dem Film über alles, aber nicht darüber wie es ist, alt zu sein.
Wir bekommen Tina als junges Mädchen, unerfahrene Sängerin, als Opfer, als Kämpferin und als Grand Dame des Rock’n’roll gezeigt. Warum bekommen wir eine mittlerweile über Achtzigjährige also nicht als das gezeigt, was sie mittlerweile nun mal auch geworden ist: als eine alte Frau? Es wirkt als dürfte Tina in diesem Film nicht alt sein. Sollten Altern und Alter nicht zu einer Heldengeschichte passen? In einem Film, der ein über achtzigjähriges Leben beleuchten soll, ist es keine bloße Auslassung, diesen wichtigen letzten Lebensabschnitt auszublenden. Es ist ein unverzeihlicher Fehler und bildet das größte Defizit eines ansonsten hervorragenden Films.
Fazit
Selten wurde ein Künstler-Portrait so aufwendig und trotzdem kurzweilig gestaltet. Nach einer Autobiografie, deren Verfilmung und Dutzenden von Dokus bietet diese neue Dokumentation alles nochmal und alles besser. Weil der Film aber Tina Turners späte Jahre fast komplett ausblendet, hat er leider nur wenig wirklich Neues zu bieten.
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