Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann

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Die meisten von uns meinen zu wissen, was „Autismus“ bedeutet.
 
Ein überaus interessanter aber leider etwas kurzer, neuer Dokumentarfilm will einige unserer Irrtümer aufzuklären.
 
I’d love to be with other people
 
Eine Mutter weint. Sie erzählt, wie nicht nur Fremde ihre Tochter nicht verstanden haben. Nein, auch sie selbst konnte nicht verstehen, was Amrit oft beunruhigt haben mag. Und wie auch die Fremden auf den Straßen Indiens, wollte die Mutter oft nur dass ihre Tochter ruhig blieb. Die Frau kann die Tränen der Verzweiflung und des Schmerzes nicht zurückhalten, weil es ihr lange Zeit wichtiger war, nicht aufzufallen als ihre Tochter zu verstehen.
 
Ein junger Mann in England spricht. Aber die Sätze, die Joss von sich gibt, scheinen kaum Bezug zu den Gesprächen anderer zu haben. Seine Eltern versuchen ständig den Code zu knacken. In den USA teilt sich Ben nur anhand einer Alphabet-Tafel mit. Seine Freundin Emma tippt auch auf einer Computertastatur. Beide sprechen kaum. Aber mit ihrer jeweiligen Kommunikationsmethode können sie komplexe Gespräche über ihre Eindrücke und Gefühle führen.
 
Jestina lebt in Sierra Leone. Sie lässt nicht von einem Stück Band ab, das sie wohl gerade geschenkt bekommen hat. Sie mag Bäume und den Strand. Aber immer wieder schreit sie, schlägt um sich, springt auf und ab und beißt auch manchmal. Ihre Eltern können damit umgehen. Aber die anderen Menschen in ihrer Umgebung nicht.
 
Sich nicht ausdrücken zu können, bedeutet auch seine Eindrücke nicht vermitteln zu können. Aber auf Autisten strömen ebenso viele Eindrücke ein wie auf jeden anderen Menschen. Bloß dass die meisten anderen Menschen diese Eindrücke sortieren können und Autisten gerade damit die größte Mühe haben. Das war bereits eines der Hauptthemen des vor einigen Jahren erschienen Buchs „Warum ich Euch nicht in die Augen schauen kann“ (im Original heißen Buch und Film übrigens „The reason I jump“). Der Autist Naoki Higashida erzählte in diesem von seinem Vater „übersetzten“ Buch von seinem Leben. Regisseur Jerry Rothwell („Town of Runners“) nimmt dieses Buch als Grundlage seines Films, der aber keine Verfilmung des Buches ist.
 
I have to speak in an unknown foreign language
 
Im Film stellt uns Rothwell der Reihe nach eine Reihe faszinierender junger Menschen vor, die wir sonst kaum jemals so kennengelernt hätten. Wir sehen hier keinen „Rain Man“, keinen Sheldon. Wir sehen echte Menschen mit echten Problemen. Sie müssen Schularbeiten machen. Sie müssen mit der Pubertät zurechtkommen. Sie müssen den Alltag meistern, der uns „neurotypischen“ Menschen schon oft genug Probleme bereitet.
 
 
Rothwells Film funktioniert am besten, wenn er uns seine Protagonisten und ihre Familien zeigt und sie agieren und vor allem sprechen lässt. Der off-Text aus der Buchvorlage ist teilweise hilfreich, wenn er uns etwa erklärt, dass Autisten keineswegs ständig in Ruhe gelassen werden wollen oder wie vertraute Rituale und Objekte beruhigenden Trost spenden können.
 
Aber an manchen Stellen hätte der Text sparsamer eingesetzt werden können. Die einzige echte Schwäche dieses offensichtlich aufwendig und liebevoll gestalteten Films ist es, sich nicht genug Zeit für seine Protagonisten zu nehmen. Die faszinierenden Geschichten dieser fünf jungen Menschen werden bestenfalls oberflächlich angerissen. Sie leben unter ganz unterschiedlichen Bedingungen in ganz unterschiedlichen Umgebungen. Aber wir erfahren kaum etwas über die Unterschiede im Leben der jungen Leute.
 
Wie muss es wohl sein, in Indien eine Tochter aufzuziehen, deren Verhalten oft Aufsehen erregt? Warum sehen wir Amrit nur mit ihrer Mutter und keiner anderen Bezugsperson? In England musste Joss die Schule wechseln. Aber seine Eltern haben schnell eine neue Schule für ihren Sohn gefunden. Ob das in anderen Ländern auch so glatt gegangen wäre?
 
Jestinas Mutter erläutert, dass es für sie und andere Eltern kaum Selbsthilfegruppen oder andere Unterstützung in Sierra Leone gibt. Das Stigma eines autistischen Kindes ist dort wohl so schlimm, dass viele Angehörige nicht darüber sprechen wollen. Nachbarn setzen Familien unter Druck und beschimpfen die Kinder. Trotzdem hat man wohl 2017 eine erste Schule für Autisten gegründet. Obwohl diese Geschichte sicher Stoff für einen eigenen Film geboten hätte, erfahren wir nichts weiter darüber.
 
Kurz wird die Geschichte des Autismus und seiner Wahrnehmung in der Öffentlichkeit erwähnt. Wir hören sogar ein historisches Zitat zur Euthanasie. Aber an der Stelle ist der Film auch schon fast zu Ende und nach gerade mal 81 Minuten wünscht man sich, Rothwell hätte sich nicht nur dafür etwas mehr Zeit genommen. Wer Autisten verstehen möchte, muss Zeit und Geduld aufwenden. Das muss doch auch für einen Film mit diesem Ziel gelten.
 
 
Fazit
 
Rothwells Film klärt einige Irrtümer auf, erwähnt ein paar Probleme und zeigt uns kurz fünf faszinierende junge Menschen. Aber auch wenn der Film fast ebenso gut gemacht wie gut gemeint ist, kratzt er in seiner Kürze doch nur an der Oberfläche des Themas.
 
 
Kinostart: 31.03.2022
 
 
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Weitere Informationen

  • Autor/in: Walter Hummer
  • Regisseur: Jerry Rothwell
  • Drehbuch: Naoki Higashida