Ohne Regeln wäre der Umgang von Menschen untereinander unmöglich.
Auch im Internet und den sozialen Netzwerken muss es daher Regeln geben. Aber weiß jemand, wie diese Regeln tatsächlich lauten? Wer legt diese Regeln fest? Wer kontrolliert ihre Einhaltung? Und kann man das überhaupt kontrollieren?
„Das Internet ist für uns alle Neuland“
Das hat die Kanzlerin erst vor fünf Jahren festgestellt. Nun, einige von uns hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits damit vertraut gemacht. Und seither werden es auch weltweit immer mehr, die von Autoreifen bis zu Kinokarten alles Mögliche online kaufen und buchen, Filme streamen und sogar extrem hochwertige Filmrezensionen im Netz lesen. Aber das Internet ist mehr als bloß shopping und Kultur. Mehr Daten als irgendwo sonst werden über die sozialen Netzwerke ausgetauscht. Bereits vor einigen Jahren haben Mathematiker festgestellt, dass auf facebook rein rechnerisch mehr Fotos zu sehen sind, als vor der Erfindung von facebook jemals aufgenommen wurden.
Die Regisseure Hans Block und Moritz Riesewick haben sich gleich in ihrem ersten großen Dokumentarfilm eines großen Themas angenommen. Eines Themas, mit dem sich niemand beschäftigt und das uns doch alle betrifft.
Delete, delete, ignore, delete, ignore, ignore, delete, …
Sie heißen “Content Moderators”. Ihre Arbeitgeber sind anonym. Aber im Auftrag der großen Konzerne, wie facebook und twitter, „reinigen“ sie diese sozialen Netzwerke von unerwünschten Inhalten. Eine der größten dieser unbekannten Reinigungsfirmen arbeitet in Manila auf den Philippinen. Dort klicken junge Menschen beruflich durch eine Flut von Bildern. 25.000 sind das Tagessoll. 25.000 Bilder mindestens muss jeder dieser „Cleaner“ pro Tag betrachten und entscheiden, ob das Bild z.B. auf facebook bleiben darf oder nicht. Ob der Inhalt gegen die Regeln des Kunden verstößt oder nicht. Drei Fehler pro Monat sind erlaubt. 25.000 Bilder pro Schicht. Gehen wir von einer Achtstundenschicht mit einer halben Stunde Pause aus, ergibt das 3.333 Bilder pro Stunde. Das wären etwas über 55 Bilder pro Minute. Also nicht ganz eine Sekunde pro Bild. Aber zum Glück arbeiten diese „Cleaners“ ja nicht in Deutschland oder einem anderen Land mit kleinlichen Arbeitsgesetzen. Und so sitzen diese jungen Menschen sehr viel länger vor ihren Bildschirmen und entscheiden Tag für Tag immer und immer wieder, was die Welt im Netz sehen darf und was nicht. Delete, ignore, delete, delete, ignore, ignore, delete, ignore, …
Was sind es für Inhalte, die sich die Content Moderators schneller als im Sekundentakt ansehen müssen? Wenn eine junge Frau darüber spricht, dass sie Trainings zu Begriffen wie „butt plugs“ und „Dildos“ brauchte, weil sie davon vor diesem Job noch nie gehört hatte, ist das noch witzig. Aber eine ihrer Kolleginnen spricht in allen Details über die Kinderpornografie, die sie bereits am ersten Tag sehen musste. Ein junger Mann hat tatsächlich Hunderte von Enthauptungen durch Islamisten gesehen. Er ist mittlerweile bereits froh, wenn die Mörder ein langes und scharfes Messer benutzen. Küchenmesser, erklärt er, wären am schlimmsten. Da dauert alles viel länger und es bleiben unsaubere, gezackte Ränder im Gewebe.
Geoblocking, Trumps Pennis, hate speech und die Rohingya
Es ist ein großes Thema, das dieser Film behandelt. Wie groß, wird uns während des Films klar. Es geht nicht nur um arme Philippinos, die sich glücklich schätzen dürfen, einen dieser furchtbaren Jobs ergattert zu haben, weil die Alternative Müllsammeln wäre. Es geht auch darum, wie facebook während einer Anhörung durch US-Politiker erklärt, Geoblocking hätte nichts mit politischen Inhalten zu tun, während die politische Realität in der Türkei ganz anders aussieht. Gerade in Ländern die keine freie Presse mehr haben, müssten die sozialen Netzwerke diese Rolle übernehmen.
Tatsächlich lässt facebook aber die türkische Regierung bestimmen, welche Inhalte das soziale Netzwerk auf Rechnern mit türkischen IP-Adressen zeigt und welche nicht. In den USA erzählt eine junge Künstlerin, wie ihr Account abgeschaltet wurde, bloß weil sie eine satirische Darstellung von Donald Trump gepostet hat. Wir sehen einen Vertreter der amerikanischen Rechten, der uns erklärt, „hate speech“ sei doch „free speech“ und damit durch die Verfassung geschützt. Dazu meint der ehemalige Produktmanager von facebook: „Früher hatte jeder ein Recht auf seine eigene Meinung. Heute hat jeder ein Recht auf seine eigene Realität, seine eigenen Fakten. facebook bedient diese Fakten, indem es Dir nur zeigt, was Du hören willst.“. Wir lernen, wie in Myanmar facebook für weite Teile der Bevölkerung gleichbedeutend mit dem ganzen Internet ist. In Myanmar leben auch über eine Million Rohingya, die von der UNO als die „am stärksten verfolgte Minderheit der Welt“ eingestuft wurden. Der facebook-Account eines Hasspredigers, der offen zum Mord an den Rohingya aufruft hat 400.000 (in Worten: vierhunderttausend) „Freunde“. Und dieser Account wird nicht gesperrt.
Mit solch extrem interessanten Geschichten, zeigt uns „Cleaners“ wie wichtig dieses Thema ist. In vielen Fällen ist es sogar lebenswichtig. Aber hier liegt auch eine der wenigen Schwächen dieser Dokumentation. Das Thema ist zu groß, berührt zu viele verschiedene Bereiche. Block und Riesewick haben eine Fülle von faszinierendem Material gesammelt. Und sie wollen uns alles zeigen. Immer wenn wir gerade (in vielen Fällen sicher zum ersten Mal) etwas über ein interessantes Thema erfahren, geht die Reise schon wieder weiter.
Kurz sehen wir wie „Airwars“ arbeitet. Journalisten sammeln von syrischen Zivilisten gepostete Videos, um die durch Luftangriffe der verschiedenen Streitkräfte verursachten Schäden zu dokumentieren. Aber gerade solche Videos werden von den Content Moderators gelöscht. Und schon erklärt uns der ehemalige Design Ethiker von google, warum es gefährlich ist, Technologie getrennt von der menschlichen Natur zu betrachten. Dazwischen erfahren wir, welche Entscheidungen die ehemalige Policy Managerin von Twitter zu treffen hatte. Das alles ist extrem interessant. Aber bei mindestens einem halben Dutzend Themen hätte man sich mehr Zeit dafür gewünscht. Das Tempo dieses Films ist rasend schnell und passt damit natürlich genau zum Thema.
Auch visuell passt der Film in unsere moderne Welt. Während im Jahr 2018 das öffentlich-rechtliche Fernsehen uns immer noch Dokumentationen zeigt, die seit 30 Jahren im gleichen Still gestaltet werden und die Dokus des Privatfernsehens so aussehen, als hätte man Praktikanten mit ihren Handykameras losgeschickt, liegt die visuelle Gestaltung von „Cleaners“ auf dem Niveau eines Hollywoodfilms. Die Aufnahmen aus Manila erinnern deutlich an „Das Bourne Vermächtnis“ und vermitteln eine bizarre Stimmung. Archivmaterial und vor Ort aufgenommene Bilder zusammen lassen uns in der Sequenz um den ultrarechten Kämpfer für die Freiheit der „hate speech“ vor Angst erschaudern.
Fazit
Ein Film mit einer unbequemen Wahrheit für jeden Internet-user. Unbedingt ansehen! Und dann bitte auf facebook darüber posten.
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