Miles Davis war einer der innovativsten Musiker seiner Zeit.
Immer wieder suchte er neue Wege für seine Kunst, immer wieder arbeitete er unkonventionell. Warum erinnert mich die neue Dokumentation über sein Leben dann an die langweiligsten Stunden meiner Schulzeit?
Miles Ahead
Geboren am 26.05.1926 wuchs Miles Davis als Sohn eines schwarzen Zahnarztes und Grundbesitzers in East St- Louis in Illinois auf. Selbst als Kind der schwarzen Oberschicht im amerikanischen Mittelwesten war er damals von der Rassentrennung betroffen. Mit neun Jahren bekam er eine Trompete geschenkt, später erhielt er eine solide, klassische Musikausbildung. Bereits mit 17 spielte er in einer Jazzband. Mit 18 wurde er zum ersten Mal Vater, zog aber gleich nach der High School nach New York City, um dort mit Jazzgrößen wie Dizzy Gilespie und Charlie Parker zu spielen. Er war maßgeblich an der Entwicklung des Bebop beteiligt und der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.
Das war meine kurze Zusammenfassung für die Nicht-Jazzfans unter den Lesern. Obwohl jeder der mit den eben aufgezählten Fakten nicht bereits vertraut war, auch gleich aufhören könnte zu lesen. Denn Stanley Nelsons Dokumentation ist wirklich nur etwas für Kenner. Genaugenommen ist dieser Film tatsächlich nur etwas für Fans von Miles Davis. Denn nur echte Fans werden mit dieser überaus detaillierten und leider ebenso unkritischen Dokumentation etwas anfangen können.
Dieser Film ist im wahrsten Sinne des Wortes eine „Dokumentation“. Akribisch genau wird jede einzelne Station im Leben des Meisters dokumentiert. Jeder wichtige Reise, jedes Zusammentreffen mit anderen Künstlern, jede bedeutende Platte, jede Station der Kariere wird erwähnt. Im Laufe dieses recht langen Films fing ich irgendwann an, im Kopf selbst die weniger wichtigen Ereignisse in Davis‘ Laufbahn durchzugehen und jedes Mal wenn sie im Film gezeigt wurden, geistig abzuhaken. „Ok, jetzt sind wir in den 80ern … damals hat er doch auch „Time after time“ aufgenommen … ach, da ist es ja! Wird am Ende sogar sein Gastauftritt in „Miami Vice“ erwähnt…? Jawoll! Schon passiert!“
Eingeweihte wissen, Davis‘ Karriere umspannte fast fünf Jahrzehnte. Und bis auf eine Pause während der späten 70er-Jahre war dieser Künstler nicht nur enorm produktiv. Er führte auch ein ereignisreiches Leben. Stanley Nelsons Anspruch wirklich alle Stationen dieses Lebens zu dokumentieren führt dazu, dass man während fast zwei Stunden Lauflänge mit Informationen erschlagen wird. Dazu hat Nelsons Recherche-Team noch eine enorme Menge an Bildmaterial ausgegraben. Und jedes Stückchen Bildmaterial ist zu sehen. Ob Bilder von Miles Davis oder einfach Archivmaterial aus der jeweiligen Epoche, wir bekommen alles gezeigt.
Während meiner Schulzeit habe ich einmal ein Referat über Woody Allen gehalten. Ich begann mit Allens Kindheit und Jugend in Brooklyn und widmete mich dann ausführlich seiner Filmkarriere. Auf einer VHS-Kassette (ja, so alt bin ich) hab ich meiner Klasse jeweils Ausschnitte aus jedem einzelnen seiner bis dato erschienen Filme gezeigt, von „Was gibt’s Neues, Pussy?“ über „Der Stadtneurotiker“ und „Innenleben“ bis zu „Eine andere Frau“, dem damals neuesten Film in meiner Videosammlung. Über eine Stunde mussten meine Klassenkameraden zuhören, was an jedem der Filme besonders und warum Allen einer der besten Regisseure der Filmgeschichte war. Nachdem ich „Miles Davis: Birth of the Cool“ gesehen habe, kann ich nachvollziehen, wie sich meine Mitschüler damals gefühlt haben müssen.
Bitches Brew
Und Regisseur Nelson geht nicht nur ebenso gründlich vor, wie ich damals, sondern auch ebenso unkritisch. Abgesehen von einer kurzen Erwähnung häuslicher Gewalt in Davis‘ Kindheit wird nie darüber reflektiert, warum dieser Mann die Frauen in seinem Leben immer wieder furchtbar behandelt hat. Frances Taylor spricht ausführlich darüber, wie er ihre erfolgreiche Karriere unterbunden und sie mehrfach geschlagen hat. Über die Mutter seiner Kinder erfahren wir, wie sie ihm einmal nach Ney York City nachgereist ist, mehr nicht. Dafür darf so ungefähr jedermann, der Davis jemals begegnet ist, vor der Kamera erzählen, was für ein besonderer Mensch der Meister doch war und warum. Ein ehemaliger Manager darf sogar Davis‘ übermäßigen Drogenkonsum entschuldigen.
Nelson bedient sich für seinen Film eines Kunstgriffs der jede kritische Distanz zum Objekt von vorneherein unterbindet. Der Schauspieler Carl Lumbly („Doctor Sleep“) liest während des ganzen Films Originalzitate von Miles Davis aus dem Off. Die meisten Texte stammen aus Davis Autobiographie, die zwar interessant zu lesen aber nicht eben selbstkritisch ausgefallen ist. Der Co-Autor dieses Buchs ist dann auch einer von Dutzenden „Talking Heads“, die im Film immer und immer wieder den Meister preisen dürfen.
Und das führt uns zum größten Problem dieses Films. Für einen Film über einen Musiker und seine Musik, ist furchtbar wenig Musik zu hören. Genaugenommen ist natürlich jede Menge Musik zu hören. Aber sie dient eben immer wieder nur als Hintergrund für die von Lumbly gesprochenen Texte und die Kommentare der Interviewpartner. Nelson dokumentiert einige der wichtigsten Aufnahmen nicht nur des Jazz, sondern der Musikgeschichte und lässt uns an keiner Stelle des Films mehr als ein paar Takte Musik hören. Bis zum Abspann hört man nicht ein Musikstück länger als 7 oder 8 Sekunden, bevor es von einem Kommentar übertönt wird.
Stanley Nelson hatte sicher nicht vor einen Musikfilm zu drehen. Aber selbst für eine reine Dokumentation ist das Ganze viel zu ausführlich und damit trocken geraten. Nelsons Methode erinnert an altmodischen Frontalunterricht, als uns der Herr Lehrer noch eine Stunde am Stück mit Zahlen, Daten, Fakten und seiner persönlichen Meinung vollgestopft hat. In der darauffolgenden Stunde hat er uns dann darüber ausgefragt und natürlich getadelt wenn wir nicht alles wussten. Immerhin hatten wir das doch alles erst letzte Stunde durchgenommen. Dieser Ansatz macht den Film für Nicht-Fans sicher anstrengend. Und echte Fans werden das meiste bereits wissen und in diesem Film nicht viel Neues für sich entdecken.
Fazit
Man erkennt den enormen Aufwand, den Stanley Nelson und sein Team betrieben haben. Leider ist der Film über einen unkonventionellen und interessanten Künstler furchtbar konventionell und dadurch recht langweilig ausgefallen. Während eines Films über einen Menschen wie Miles Davis sollte man sich nicht wie im Schulunterricht fühlen.
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