Im Kino kann man heutzutage alles möglich sehen: Superhelden, ...
... Weltraumschlachten, sprechende Tiere, alte Männer die sich für Actionhelden halten, junge Modells die sich für Schauspielerinnen halten, ... Aber wann wird man im Kino schon mal Zeuge eines Wunders?
Amazing Grace, how sweet the sound ...
1972 war Aretha Franklin bereits seit einigen Jahren der größte weibliche Star des Soul. Sie war auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und ihrer Gesangskunst, als sie ein auf zwei Abende verteiltes Konzert in der New Temple Missionary Baptist Church gab.
Franklin, selbst die Tochter eines Predigers aus Detroit, kam auf Einladung von Reverend James Cleveland. In dieser kleinen Kirche im armen Stadtteil Watts sollte sie das Live-Album „Amazing Grace“ aufnehmen. Diese Aufnahme wurde der größte Erfolg in Franklins langer Karriere. Die Platte wurde mit Doppel-Platin und einem Grammy ausgezeichnet und ist bis heute das meistverkaufte Gospel-Album aller Zeiten. Warner Brothers wollte einen Konzertfilm zum Album herausbringen. Aber etwas ging schief.
That saved a wretch like me, ...
Mit der Regie des Films wurde der damals bereits etablierte Regisseur Sidney Pollack betraut. Pollack sollte später das Meisterwerk „Jenseits von Afrika“ drehen. Aber auch damals hatte er sein Können bereits mit Filmen wie dem surrealen Drama „Der Schwimmer“, dem Kriegsfilm „Das Schloss in den Ardennen“ oder dem Sozialdrama „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“ belegt.
Mehr als 45 Jahre lang hieß es, Pollack hätte es damals nicht geschafft, Bild und Ton parallel laufen zu lassen. Im Zuge meiner Recherchen habe ich mir aber von einer erfahreneren Cutterin erklären lassen, derlei Fehler wären nicht selten und hätten bereits damals in der Nachbearbeitung korrigiert werden können. Trotzdem wurde der Film seit 1972 nie zur Aufführung gebracht.
I once was los, but now I’m found, ...
Alan Elliott hat bisher nur Musik für Film und Fernsehen komponiert. Er hat das von Pollack gedrehte Material bearbeitet und unter seiner Regie nun ins Kino gebracht. Und er hat damit nicht nur etwas Wunderbares geschaffen. Er hat damit nicht einfach nur Großartiges dokumentiert. Er hat auch eine der größten Schlampereien der Filmgeschichte ausgeglichen.
Bei aller Verehrung für den verstorbenen Großmeister Pollack: der Mann muss in den frühen 70ern mehrere große Probleme gehabt haben. Ein Problem alleine wäre nicht ausreichend als Erklärung für das was er und sein Team bei den Dreharbeiten angestellt haben.
Wie kann ein erfahrener Regisseur eine Künstlerin die ruhig an einem Pult steht ständig in unscharfen mit der Handkamera gedrehten Aufnahmen zeigen? Wie kann man einen statischen Chor ständig in verwackelten Bildern zeigen? Wenn die verschiedenen Kameraleute (unter anderem auch Pollack selbst) immer und immer wieder die Schärfe ziehen, sieht das so aus, wie ein asthmatischer, epileptischer Posaunist klingen würde.
Der neue Regisseur Elliott hat dieses Material in mühevoller Kleinarbeit mit modernster Technik bearbeitet. Trotzdem sieht man in knapp 90 Minuten keine Handvoll Aufnahmen die nicht verwackelt und/oder unscharf sind. Und doch müssen wir Alan Elliott dankbar sein, weil er uns mit der Rettung dieses Filmmaterials ein Wunder vermittelt hat.
Was blind, but now I see
Elliott beschränkt seine Erläuterungen auf einige wenige eingeblendete Informationen am Beginn des Films. Der charismatische Reverend James Cleveland spricht an einzelnen Stellen ein paar Worte. Er erwähnt kurz, welchen Weg die Schwarzen in den USA zum dem Zeitpunkt hinter sich hatten. Aretha Franklin selbst spricht kaum, sie singt nur. Und wie sie singt.
Zu Beginn des Films meint Reverend Cleveland über die Sängerin: „She can sing anything.“ und hat damit vermutlich Recht. Dazu eine kleine Anekdote: Als Luciano Pavarotti in den 90er Jahren einmal einen Auftritt krankheitsbedingt absagen musste, bat die ebenfalls anwesende Aretha Franklin darum, sich die Aufnahme von Pavarottis Probe einmal anhören zu dürfen. Danach ging sie auf die Bühne um Puccinis Arie „Nessun Dorma“ in einem für Pavarotti gedachten Arrangement zu singen und die Halle zum Toben zu bringen.
Aber selbst diese große Künstlerin hat nichts jemals so gesungen, wie die Gospelsongs, die sie bereits als kleines Mädchen in der Kirche ihres Vaters in Detroit gesungen hatte. An diesen zwei Abenden in dieser schäbigen kleinen Kirche hat diese Frau, diese große Sängerin all ihr Können, all ihre Liebe, ihren Glauben und noch viel mehr in diese Hymnen gepackt.
Der Verfasser dieser Zeilen ist kein religiöser Mensch. Aber wenn ein zynischer alter Agnostiker in einem dunklen Kinosaal von 48 Jahre alten Aufnahmen zu Tränen gerührt wird, dann ist das nichts weniger als ein Wunder. Dieses Wunder hat kein Herrgott vollbracht. Dieses Wunder hat eine große Künstlerin vollbracht. Unterstützt wurde sie dabei von der Kraft der Musik und der Magie des Films.
Wenn Aretha Franklin „Amazing Grace“ singt, eine Hymne die von einem ehemaligen Sklavenhändler komponiert wurde, singt sie nicht einfach nur. Sie verbreitet eine Botschaft. Nicht unbedingt eine religiöse oder spirituelle Botschaft, sondern eine zutiefst menschliche Botschaft von Respekt, Verständnis und Liebe. Von Miteinander, statt gegeneinander.
Fazit
Wer sich eine Karte für eine Vorstellung von „Amazing Grace“ kauft, geht nicht bloß ins Kino. Er wird Zeuge eines Wunders. Die verwackelten Bilder stören dabei genauso wenig wie der kitschige Jesus im Hintergrund. Was zählt ist bloß das Wunder der Musik und die wunderbare Botschaft dieser Musik.
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